Schatten

„Der Schatten
dunkelt das Strahlen des Lichts –
auf die Erde geworfen
in Fetzen aus Nichts“

Kaum etwas findet in unserer westlichen Kultur so wenig Beachtung wie der Schatten – wohl deshalb, weil er nicht materiell ist. Er ist die einzig existente immaterielle und dennoch sichtbare Form, ein Wunder der Ästhetik und des Geistes zugleich. Wer meint, in ein paar Zeilen alles über ihn sagen zu können, wird eines Besseren belehrt, sobald er ihn aufmerksam studiert: wer in das dunkle Herz des Schattens blickt, erkennt seine unendliche Vielfalt.

Das Phänomen des Schattens in all seiner Vielfalt entsteht durch drei Grundeigenschaften des Lichtes:

zum einen können die Strahlen des Lichtes die uns bekannte Materie nicht oder nur sehr bedingt durchdringen, zum anderen ist das Licht fähig, sich jedweder Struktur bedingungslos anzupassen und zum dritten erzeugt es vom kleinen Funken einer Wunderkerze bis hinein in die unermessliche Fülle unserer erleuchteten Gegenwart je nach seiner Beschaffenheit eine andere Art von Schatten.

Diese Wesenszüge verbinden sind untrennbar miteinander und werden so zur Grundbedingung des Schattens. In seiner dunklen Glanzlosigkeit hat jeder Schatten eine ästhetische Würde, unabhängig vom ihn werfenden Objekt. Er ist in seiner Natürlichkeit über jedes Urteil erhaben.

Zum Ursprung des Schattens gibt es zwei Ideen:

1. Wir können die Schatten als Löcher im Licht verstehen. Es lässt sich messen, dass dort, wo ein Gegenstand Schatten erzeugt, weit weniger Photonen schwingen als im umgebenden Lichtstrom. Es entstehen Räume und Flächen ohne messbares Licht. Dies bleibt dabei jedoch der bestimmende Faktor, denn bei dieser Betrachtungsweise ist es die Bedingung zum Vorhandensein der Schatten. Ein Schatten erscheint und wenn die Lichtquelle vorübergezogen ist oder ausgeschaltet wurde, ist er wieder verschwunden. In dieser Idee ist der Schatten also ein vom Licht abhängiges Phänomen, eben lediglich ein Art „Loch“, das durch die Abwesenheit des Lichtes entsteht.

2. Schatten lassen sich aber auch verstehen als Reste des kosmischen Dunkels auf der Erde. Die Finsternis wird im weitaus größten Teil des Weltalls nur aufgerissen, wo das Licht auf Materie trifft. In der kosmischen Zeitrechnung sind dies kurze Momente, bevor der Urzustand der Dunkelheit wieder eintritt. In dieser Idee sind die Reste des kosmischen Dunkels auf der Erde nicht völlig vertrieben und tauchen sofort wieder auf, wenn das Licht von einem Ort abgehalten wird. Hier also ist die Finsternis die Grundsubstanz des Universums und das Licht kann sie nur stellen- und zeitweise erhellen.

Was Schatten genau sind ist also eine Frage des Standpunktes und der Frage nach dem Anfang des Seins – je nachdem, ob man dem Licht oder der kosmischen Finsternis den Anfang zugesteht.

Schatten: althochdeutsch scato, griechisch skótos: Dunkelheit