Ein Gespräch

Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Buch „Die Entdeckung des Schattens“ von R. Casati.

1. Unterhalb der Akropolis geht Platon in Richtung Meer. Skia, sein Schatten, ist im grellen Mittagslicht kaum zu sehen. Schrill zirpen die Zikaden.

SKIA: Das ist anstrengend! Können wir uns nicht einen Moment ausruhen?
PLATON: Was redest du da? Ausruhen! Ich bin es doch, der geht! Dein lächerliches Getanze ist ja nichts als eine Imitation meines Gehens.
SKIA: Es stimmt, dass ich nicht gehe. Aber du trittst mich dauernd mit Füssen!
PLATON: Na und? Du bist doch bloß ein Schatten. Bist nicht aus Fleisch und Blut und empfindest keinen Schmerz. Ich weiß nicht einmal, wieso ich überhaupt mit dir rede. Vielleicht liegt das an der Hitze, die mir die Sinne trübt.
SKIA: Aber die Kühle, die meine Brüder dir spenden, wirst du nicht verachten. Wir könnten uns im Schatten dieser Höhle dort unten ein wenig niedersetzen.
PLATON: Niemals! Lieber zerschmelze ich in der Sonne. Ich nehme gewaltige Mühen auf mich, um die Menschheit der Finsternis zu entreißen. Dies ist wahrhaftig nicht der rechte Augenblick, das Licht zu verlassen.
SKIA: Dass ich dir nicht gefalle, ist klar wie der lichte Tag. Trotzdem haben wir noch ein gutes Stück Weg vor uns, das wir gemeinsam gehen müssen.
PLATON: Darauf würde ich liebend gern verzichten.
SKIA: Was haben die Schatten dir denn getan? Was hast du gegen uns?
PLATON: Ihr seid zu aufdringlich, das ist es. Ihr lenkt ab. Ihr seid finster. Den Kindern macht ihr Angst. Ihr seid schwer zu begreifen. Ihr verursacht alle möglichen Probleme.
SKIA: Könntest du vielleicht mal ein Beispiel nennen?
PLATON: Lies, dann wirst du schon sehen.

2. Auf dem Weg nach Piräus bleibt Platon an einer Straßenecke stehen und stellt sich mit dem Rücken zur Sonne. Zu seinen Füssen zeichnet sich Skia, sein Schatten, klar und deutlich ab. Das Laub der Olivenbäume raschelt im Wind.

SKIA: (verzweifelt) In eine Höhle eingesperrt! Als Beispiel für mindere Erkenntnis missbraucht! Jahrhunderte lang als Vogelscheuche der Philosophie angeprangert! Also wirklich – tagein, tagaus folge ich dir auf Schritt und Tritt, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und du trampelst nur auf mir herum. Du müsstest mich um Verzeihung bitten.
PLATON: Unverschämtheit! Wie du sehr wohl weißt, bist du nicht nur vergänglich und düster, sondern birgst außerdem ein Nest von Widersprüchen, stiftest Verwirrung und säst Entsetzen und lässt jedermann, ob groß oder klein, ratlos zurück. Deine Lage wird keineswegs besser.
SKIA: Aber genau darum geht es doch! Selbst wenn ich schrecklich bin und selbst wenn die Menschen nicht so recht wissen, was sie von mir halten sollen, will ich dir beweisen, dass ich jedermann nützlich sein kann – auch den Wissenschaftlern und den Philosophen, wie du einer bist.
PLATON: Na ja! Ich wüsste wirklich nicht, wozu du gut sein solltest.
SKIA: Also: ohne mich gäbe es keinen Wechsel von Tag und Nacht, könntest du die Form der Gegenstände nicht erkennen, erschiene dir alles flach und wesenlos…
PLATON: aufgebracht: Mag sein, trotzdem bist du bloß ein Komparse: die ganze Arbeit macht doch das Licht.
SKIA: Einwand! Das Licht versteht nichts anderes, als stur geradeaus seinen Weg zurückzulegen. Kopflos springt es herum, und wenn es auf ein Hindernis trifft, prallt es zurück und schwenkt in eine andere Richtung ein. Ich hingegen bewahre die Spur dieser Begegnung. Ich, der Schatten, bin die Erinnerung des Lichts. Wie – bist du noch immer nicht überzeugt? Ich habe noch viele Pfeile in meinem Köcher. Lies, dann wirst du schon sehen.

3. Es herrscht eine blendende Helligkeit, aber zugleich ist es dunstig. Man spürt nun die Nähe des Meeres, die sengende Hitze der Sonne hat nachgelassen. Skia, Platons Schatten, wächst zusehends, beinahe überheblich.

PLATON: Wir haben einen langen Ritt durch die Zeit hinter uns, aber sehr weit sind wir nicht gekommen.
SKIA: Aristarch und Eratosthenes zeigen uns, wie groß die Erde und der Himmel sind. Die Philosophen und Mathematiker machen sich die Sonnenbahn zunutze und setzen sie in eine Uhr um. Und du sagst, das seien keine gewaltigen Fortschritte? Was muss ich den noch tun, um dich zu überzeugen?
PLATON: Die Entdeckungen des Schattens, die du da aufzählst, scheinen mir pure Zufallsprodukte. Wirklich ernst nimmt dich keiner.
SKIA: Das beste habe ich ja noch aufgespart. Es gibt ein Jahrhundert, mein Jahrhundert, in dem mir sämtliche Astronomen nachlaufen, mir den Hof machen, mit großem Spektakel verkünden, sie hätten mich bald hier, bald dort gesichtet, und mich auf den fernsten Planeten des Sonnensystems aufzuspüren versuchen.
PLATON: Sonnensystem? Wovon redest du?
SKIA: Die Zeiten ändern sich, Platon. Durch mich hat die Menschheit erkannt, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums steht.
PLATON: Beliebst du zu scherzen?
SKIA: Keineswegs. Lies weiter. Wie gesagt, das Schönste kommt erst.

4. In einem Olivenhain nahe Piräus. Skia, Platons Schatten, streckt sich auf der Erde aus und klettert das Mäuerchen empor, das neben dem Pfad entlang führt. Im Vorübergehen streift er eine Eidechse, die fröstelnd die Flucht ergreift.

PLATON: Eine neue Welt. Und doch…
SKIA: Zweifelst du noch immer? Genügen dir die Taten des Galileo und all der übrigen noch immer nicht?
PLATON: Bemerkenswert sind sie in der Tat. Doch wirst du selbst einsehen, dass der Umgang mit dir nicht einfach ist. Nimm nur den Fall jenes armen Illustrators, der den Schatten des Saturnringes vergaß.
SKIA: Du hast nichts begriffen. Der Fehler ist ihm unterlaufen, weil er gar zu tüchtig war!
PLATON: Wie? Verwickelst du dich nicht in Widersprüche? Wunderlich bist du fürwahr!
SKIA: Lass es mich erklären. Es stimmt, dass der Illustrator – ein unverzeihlicher Fehler – die Ringe nicht berücksichtigt hat. Er lenkte sein Augenmerk allein auf die Kugel. Doch was geschah? In der ursprünglichen Zeichnung erschien ihm der Schatten unglaubwürdig: das konnte nicht der Schatten einer Kugel sein. Deshalb nahm er eine Korrektur vor.
PLATON: Na und?
SKIA: Er hielt es für selbstverständlich, die Zeichnung zu korrigieren, und dies zeigt, dass zu seiner Zeit jeder Künstler die Sprache des Schattens zu verstehen hatte.
PLATON: Wer hätte das gedacht. Aber warum soll das alles so wichtig sein?
SKIA: Denk an die Wette des Galileo: Gebt mir einen Schatten, und ich rekonstruiere euch die Form. Galileo gewinnt die Wette, weil die Maler die entgegengesetzte Aufgabe für ihn gelöst haben: gebt uns eine Form und wir konstruieren ihren Schatten.
PLATON: Wie ist ihnen das gelungen?
SKIA: Das werden wir jetzt sehen.

5. Am Meeresstrand. Platon sieht zu, wie Skia, sein Schatten, nun riesenhaft über die Mauern der Häuser gleitet. Das Licht schwindet, während die Sonne sich aufs Meer herabsenkt.

SKIA: Nehmen wir Abschied voneinander, ehe die Nacht hereinbricht.
PLATON: Und was wird aus dir?
SKIA: Du bist mich endlich los! Bald verschmelze ich mit dem Schatten der Erde. Offen gestanden ist mir das alles ja gleichgültig.
PLATON: Du bist derart ungreifbar, dass ich dir nichts antun kann, wenn ich die berühre. Bist du wirklich so gefühllos? Mir tut dieser Abschied fast leid.
SKIA: Lieber Platon, ich kenne keine Trauer, weil ich keine Erinnerung habe. Ich bin so. Obwohl skia, mein Name, auch „Spur“ bedeutet, wirst du an mir keinerlei Zeichen entdecken wie die Narbe, die deinen Arm furcht und an die Wunde erinnert, die du als Kind davon getragen hast. Ich habe keine Geschichte zu erzählen, weil die Vergangenheit keinen Abdruck auf mir hinterlassen hat. Aber bedenke, das ist auch mein Privileg. Ich bin in jedem Augenblick anders, aber in jedem Augenblick bin ich gezwungen, ein getreues Abbild dessen zu geben, dem ich als Schatten beigestellt bin. Aus eben diesem Grund haben sich Geometer, Astronomen, Maler auf mich verlassen. Ohne Gedächtnis kann ich niemanden hinters Licht führen, wenn ich die mir anvertraute Botschaft überbringe. Was ich sage, ist über jeden Verdacht erhaben.
PLATON: Ich glaube, ich habe die Bedeutung der Schatten nun verstanden. Ihr seid wahrhaft ungewöhnliche Erscheinungen.
SKIA: Wir sind ungewöhnliche Erscheinungen, weil wir uns auf halben Weg zwischen Wahrnehmungen und Denken aufhalten.
PLATON: Was meinst du damit?
SKIA: Jeder Schatten enthält eine Botschaft, die er in seiner dunklen Hülle gut verwahrt. Wir Schatten sind voller Gedanken. Doch diese Gedanken sind für jedermann sichtbar.
PLATON: Ungefähr so wie das Wort, wenn man die Sprache spricht, in der es geschrieben ist. Das ist der Grund, weshalb die Gelehrten mit dem Schatten zu sprechen verstanden.
SKIA: Ich sage dir noch mehr. Die Gelehrten verstehen mit dem Schatten zu sprechen, weil jeder Schatten selbst ein Gelehrter ist. Zum Beispiel konstruieren wir ein zweidimensionales Modell einer plastischen Wirklichkeit. Und dies tun wir ununterbrochen, unermüdlich.
PLATON: Und wozu soll das gut sein?
SKIA: Hast du Eratosthenes vergessen? Er befragte einen winzigen Schatten auf dem Grund einer Schüssel und erfuhr daraus den Umfang der Erde!
PLATON: Ich habe die Lektion gelernt. Hätte ich noch ein Buch über die Erkenntnis zu schreiben, behandelte ich dich mit größerem Respekt.
SKIA: Die Sonne ist beinahe verschwunden. Was wir getan haben, können wir nicht rückgängig machen, aber genießen wir doch dieses schöne Abendrot, ehe ich in den großen Schatten der Nacht eingehe.

Die Sonne versinkt im Meer. Skia löst sich von Platons Körper und fliegt stumm davon. Er gleitet über die Häuser hinweg und streckt sich über die Berge hinter Athen.