Neue Schatten

Einer hat es gewagt und den starken, brennenden Ast aufgehoben, den der Blitz vom Baum geschlagen hatte, hat ihn mit heftig pochendem Herzen in die nahe gelegene Höhle getragen und dort wieder auf die Erde gelegt. Zögernd und ängstlich traten schließlich die Anderen hinzu und scharten sich mit großen Augen und noch größerem Staunen um das wärmende Feuer. Als ein Anderer aber die schwarzen, flackernden Schatten hinter ihnen an der Felswand erblickte, erschrak er zutiefst und mit ihm die Gefährten. Im selben Augenblick flohen sie wieder hinaus in die Nacht, um sich dort draußen, in der vertrauten Finsternis zu verstecken.

So oder ähnlich könnte sie gewesen sein, die erste Begegnung des Menschen mit Schatten, die nicht durch die Sonne entstanden waren. Und der Schreck saß tief, denn es dauerte viele tausend Jahre, bis er sich dieser dunklen, Furcht einflößenden Form wieder zuwandte.

Der Beginn des bewussten Spieles mit dem Schatten verliert sich im Dunkel der Geschichte. Die Legende weiß den Ort der Entstehung am Hofe eines chinesischen Kaisers, dessen Minister ihm die Silhouette seiner geliebten Frau als Schatten erscheinen ließ. Und tatsächlich finden sich im Reich der Mitte auch die ersten Aufzeichnungen über die Verwendung von Licht und Figur.
Über die verschlungenen Wege des Orients erreicht das Schattenspiel schließlich im späten 17. Jahrhundert Europa. Die für den Schattenwurf verwendete Lichtquelle ist eine aus Wachs oder Öl gespeiste Flamme, die am Docht hin und her flackert. Ihr unruhiges Zucken zwingt auch den Schatten in eine hastige Bewegung und ihre Größe gibt ihm eine nur undeutliche Kontur. Um einen ruhigen und klaren Schatten zu zeigen, muss der Spieler deshalb seine Figur immer an der Leinwand führen. Zwei wichtige Entdeckungen in der Geschichte des Schattens stehen zu dieser Zeit noch aus. Seine wirkliche Schönheit bleibt noch verborgen.

Die Erste ereignet sich exakt am 21. Oktober 1878. An diesem Tag verlieren die Schatten ihre Wildheit. Der Mann, der sie bändigt, heißt Thomas Alfa Edison. Nach mehr als tausend Versuchen lässt er elektrischen Strom durch einen abgebrannten Kohlefaden fließen und dieser glüht mehrere Stunden lang – die erste gleichmäßig strahlende Lichtquelle der Welt erhellt den kleinen, bescheidenen Schuppen hinter seinem Haus und die Glühbirne ist erfunden.
Von nun an rührt das Licht nicht länger aus einer Flamme, die zuckend und züngelnd ihre Strahlen verbreitet, sondern aus einem stabil glühenden Faden, der durch Strom erhitzt wird. Edisons Erfindung erobert in wenigen Jahren die Welt und die zitternden dunklen Formen in den Zimmern, auf Fußböden, an Hauswänden und auf den Straßen werden still. Der Schatten ist gezähmt. Nirgendwo sonst in der Natur hatten solche Schatten vorher existiert. Kein Schatten war jemals bewegungslos. Auch nicht der Schatten der Sonne!

Für das Schattenspiel bedeutet dies aber immer noch das herkömmliche Spiel an der Leinwand. Der Schatten ist nun zwar ruhig geworden, aber seine Kontur, seine Ränder werden unscharf, sobald sich die Figur vom weißen Tuch entfernt. Edisons glühender Faden ist immer noch zu groß, um klare Schatten entstehen zu lassen und die zweite Entdeckung lässt noch beinahe hundert Jahre auf sich warten.

In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts jedoch wird sie im Labor von General Electric vorbereitet: um ein möglichst kleines, leuchtstarkes Licht für Passagierflugzeuge zu entwickeln, versuchen die Forscher zunächst, mehr Strom durch den Glühdraht fließen zu lassen. Als dies fehlschlägt, verändern sie das Luftgemisch – und haben Erfolg. Durch die Zugabe von halogenen Gasen wird es möglich, den Draht stärker zu erhitzen, sodass er heller leuchtet. Dadurch wiederum lässt er sich verkleinern und die Abstrahlfläche des Lichtes wird auf einen Punkt konzentriert.

Nun ist es soweit: die Schatten zeigen ihre klarste Form, denn die Strahlung eines solchen Glühpunktes gibt ihnen immer eine scharfe Kontur. Jetzt ist der Spieler mit der Figur oder seinem Körper nicht mehr an die Leinwand gezwungen und kann sich im Raum bewegen. Er geht schließlich bis zum Licht und nimmt es in die Hand. Und dieser Griff zum Licht verändert alles, denn der Spieler erobert den Raum vor der Leinwand.
Und noch etwas Außergewöhnliches geschieht: die Bewegung des Lichtes ermöglicht die Entstehung scheinbar dreidimensionaler Bilder aus Schatten und damit die Perspektive. Das mit der Hand geführte Licht wird – wie die Kamera – zum Auge des Zuschauers.

Hier beginnt meine Arbeit.