Eigenarten

Viele der Ideen im folgenden Text stammen von Roberto Casati, einige aus den Büchern, die sie im Literaturverzeichnis finden und von mir.

Im Brockhaus wird der Schatten definiert als „der nicht oder weniger beleuchtete Raum hinter einem reflektierenden oder stark absorbierenden bzw. lichtundurchlässigen Körper„. Der Schatten ist also primär ein Raum, ein Volumen, das wir allerdings häufig erst dann als Schatten bezeichnen, wenn es von einer Fläche begrenzt wird. Im Englischen wird deshalb zwischen diesen Aspekten des Schattens unterschieden. Ein „shadow“ hat eine Form und ist zweidimensional, er ist eine Projektion. Wohingegen „shade“ einen umgibt, er ist ein dreidimensionaler, unsichtbarer Raum. Andere Sprachen nehmen ein und dasselbe Wort, können aber durch unterschiedliches Einsetzen im Kontext die Verschiedenheit ausdrücken. Man sagt, man sei „nell ombra“, um auszudrücken, dass man sich in einem bestimmten Schatten befindet und „all ombra“, wenn man im Schatten steht.

Der beschnittene Schatten auf der Fläche ist der sogenannte „Schlagschatten„. Daneben gibt es einen Eigenschatten, der den „unbeleuchteten Teil der Gegenstandsoberfläche“ meint. Ein Kernschatten entsteht dort, wo keine Lichtwellen hin gelangen. Halbschatten sind dort, wo das Licht nur durch Strahlenbrechung noch hinreicht. Im Zusammenhang mit der Erde spricht man hier von Dämmerung. Auf dem Teil der Erde, der in ihrem Eigenschatten liegt, nennen wir den Kernschatten Nacht. All diese Bezeichnungen beziehen sich auf Flächen, die den „Körper des Schattens“ begrenzen. Schatten ermöglichen uns, räumliche Dimensionen und Strukturen zu erkennen und erleichtern die Analyse einfacher Körper wesentlich. Sie geben Auskunft über die Beschaffenheit der Objekte und über die Positionen von Gegenstand, Lichtquelle und Fläche. Die Oberflächenqualitäten der Stoffe sind durch aller kleinste Schatten erkennbar.

Die Welt ist ohne Schatten erkenntnismäßig flacher und einförmiger. Ein Großteil ihres dreidimensionalen Aufbaus wäre uns unzugänglich. Prinzipiell jedoch nutzen wir die Schatten in unserer Wahrnehmung auf eine sehr rudimentäre und schnelle Weise und streichen sie dann sozusagen auch wieder aus dem Gesichtsfeld. Ihre Komplexität widerstrebt der Schnelligkeit, mit der wir unsere Umgebung wahrnehmen und auf sie reagieren müssen. Man kann sich also kaum eine Vorstellung von den uns umgebenden Schatten machen, ohne innezuhalten. Schatten bewusst wahrzunehmen und sich mit ihnen zu beschäftigen, verlangt ein hohes Maß an Konzentration.

Der Schatten ist flüchtig und nicht greifbar, er ist keine stoffliche Erscheinung und es gibt ihn in allen Dimensionen. Er kommt und geht, ohne Spuren zu hinterlassen. Im Augenblick seiner Existenz ist der Schatten die Spur und der Beweis einer Begegnung mit dem Licht. Er ist auf ein Mindestmaß von Licht angewiesen um seine flüchtige Existenz zu erlangen.

Der Schatten ist ohne Gedächtnis und erzählt uns nichts, weil die Vergangenheit keinen Abdruck in sein flüchtiges Wesen einschreiben kann. Er ist pure Gegenwart und dem Fluss der Zeit unterworfen. Deshalb auch ist er in jedem Augenblick anders und gleichzeitig demjenigen untertan, von dem er ein Abbild gibt. Er ist ein Sklave, der auf Schritt und Tritt verfolgt und doch nicht immer zu Diensten ist. Er verschwindet und taucht wieder auf, verändert seine Größe, klebt beharrlich am Körper fest und lässt sich doch nicht einfangen. Der Schatten ist reine Form ohne Materie, eine substanzlose Verminderung des Gegenstandes, der ihn verursacht. Er ist voluminös und in beschnittenem Zustand flach und farblos, ohne Eigenschaften. Sein Umriss umfasst ein undefiniertes Inneres. Und vor allem ist er – nach Idee 1 – die Abwesenheit des Lichts.

Dieses Fehlen von Licht macht ihn aber auch zu einem Versteck, denn der Blick dringt in die Dunkelheit nicht hinein. Unsere Augen sehen nur, was die Lichtquelle beleuchtet und der Schatten versteckt sich genau dort, wo das Licht ihn nicht erhellen kann. Es ist die Natur des Schattens zu verschwinden, sobald er dem vollen Licht ausgesetzt ist. Allein die Sonne hat das einzig ungetrübte Bild von der Welt und noch niemals einen Schatten zu Gesicht bekommen.

Schatten sind – gemäß der ersten Idee – abhängige Erscheinungen. Es gibt keine Schatten ohne Gegenstände, die sie werfen. Das Objekt, das einen Schatten wirft, ist aktiv, der Schatten passiv. Wird das Objekt bewegt, bewegt sich der Schatten und nicht umgekehrt. Er wird durch Bewegung und Lichteinfallswinkel kontrolliert.
Die Schatten sind Parasiten und bestehen aus Nichts. Ungreifbare Parasiten also, immaterielle Gebilde und als solche irritierend für unseren Geist. Es hilft vielleicht, den Schatten als die Abwesenheit von Licht zu beschreiben, also von etwas, das von sich aus schon flüchtig und schwer zu erfassen ist. Sonderbarer noch: der Schatten ist eine örtlich begrenzte Abwesenheit von Licht, deren Grenze der Erkenntnis zugänglich sein muss. Es muss für unser Verständnis eine Schattenlinie vorhanden sein, die Licht und Schatten eindeutig trennt, damit der Schatten für uns existiert. Die Nacht gilt in unserem Begriffssystem nicht als Schatten. Dass sie einer ist, musste erst entdeckt werden. Schattenphänomene am Himmel oder von kosmischen Ausmaßen verbinden wir eher mit der Dunkelheit als mit dem Schatten, da ihre Dimensionen unsere Wahrnehmung überfordern.

Schatten sind – wieder Idee 1 – wie Löcher: auch Löcher sind abhängige „Dinge“. Es gibt kein Loch ohne den Gegenstand, in dem sich das Loch befindet, den Wirt gewissermaßen, in dem das Loch Parasit ist. Löcher bestehen ebenfalls aus Nichts. Und auch das Loch ist eine lokale Abwesenheit, die einer Begrenzung bedarf, einer Grenze zum Wirtsgegenstand, jenseits derer sich das Loch auftut. Löcher aber sind Parasiten mit statischen Wirten, wohingegen Schatten Löcher im Licht sind, das dem Wesen nach dynamisch ist. Schatten sind also fliegende Löcher, die den Gegenstand, der den Schatten wirft, mit der Projektionsfläche des Schattens verbinden.

Als Spur trägt der Schatten eine Erinnerung an das Geschehen mit sich, das ihn hervorgebracht hat. Schatten sind folglich Bilder, Abbilder des Gegenstandes, der den Schatten wirft, auch wenn wir nicht immer am Schatten den Gegenstand erkennen können. Ein Schatten ist die Spur, die ein Gegenstand in dem Licht hinterlässt, das auf ihn trifft.

Der Schatten führt ein Doppelleben, nämlich einerseits als dreidimensionaler Körper und andererseits als zweidimensionale Figur. Manchmal meinen wir, er erstrecke sich von dem Schatten werfenden Gegenstand bis zur Projektionsfläche, dann wieder schränken wir ihn auf die Fläche ein, auf die er geworfen wird. Und schließlich überschneidet sich das Wesen des Schattens auf überraschende und verstörende Art und Weise mit dem Wesen des Lichts. In manchen Situationen fehlt sogar ein geeigneter Begriff um zwischen beiden zu unterscheiden. Stellt man ein grünem Glas zwischen Lichtquelle und Projektionsfläche, so ist unklar, ob es sich bei dem grünen Fleck, der sich ergibt, um einen Licht- oder Schattenfleck handelt. Es gibt keine Antwort, die diese Frage eindeutig klären könnte.

Schatten nehmen seit jeher eine Sonderstellung ein. Wir übersehen sie leicht und erwähnen sie nur beiläufig. Den Schatten gegenüber zeigen wir eine ständige Unachtsamkeit. Sie spielen eine Rolle, aber sie bleiben unbeachtet. Der Schatten ist eine Art heimlicher Gast, er huscht unbeobachtet vorbei.

Zum Abschluß noch ein langes Zitat von Roberto Casati:

Ich habe auf Schatten Acht gegeben und Folgendes beobachtet: ich habe Seemöwen rückwärts fliegen sehen, ich habe Palmen sich voller Grazie sich im Wind biegen sehen, nachdem sie gefällt worden waren. Ich habe Balkone gesehen, die sich in die Länge dehnten, und Häuser, die sie verschluckten, ich habe riesige Männer zu Kindern schrumpfen und Kinder sich in Riesen verwanden sehen. Ich habe Bäume sich ins Wasser stürzen und Flüsse überqueren sehen, ich habe Regenrohre und Dachrinnen sich in Schleier verwandeln sehen, die sich über ganze Gebäudewände legten. Ich bin leicht wie eine Amsel Zypressen bis zu ihren sich wiegenden Wipfeln hinaufgeklettert, ich habe Frauen durcheinander hindurch gehen sehen, ich habe die Bahn der Sonne in einer Schüssel verfolgt. Ich habe gelernt, dass Licht sich in Schatten und Schatten sich in Licht wenden kann.
Dies waren flüchtige Begegnungen, zunichte gemacht durch den Lauf der Sonne, durch das Nacheinander von Tag und Nacht. Zuweilen habe ich das Gefühl, ich sei die einzige Person auf Erden, der es gegeben ist, Zeuge solcher außergewöhnlichen und unwahrscheinlichen Vorkommnisse zu sein. Hinzu kommt das Bewusstsein, dass diese Ereignisse sich vor allen Augen abspielen, aber gleichwohl unbemerkt bleiben. Hin und wieder dünkt es mich, dass dieses parallele Universum ganz alleine mir gehört: ich habe nach langen Lehrjahren gelernt, meinen Weg darin zu finden, ich habe es topografisch vermessen wie der Erforscher einer unbekannten Welt, einer Welt, die sich mit der unseren überschneidet, sie aber unberührt lässt, einer Welt, die ich an jeder Straßenecke, ja nachgerade mit jedem Schritt betreten und verlassen kann, ohne überhaupt eine Zauberformel aussprechen zu müssen.