Neues Licht

Es ist nicht einfach zu fassen, was gegenwärtig im Bereich der bildenden und darstellenden Kunst geschieht: Insbesondere die Digitalisierung ermöglicht tiefgreifenden Einfluss auf die meisten artifiziellen Leuchtmittel und dadurch neue Beleuchtungsmöglichkeiten. Deshalb schießen Installationen, Performances, Inszenierungen und dergleichen mehr mit der Betonung auf Licht wie Pilze aus dem Boden. Die einzelnen Darstellungsformen sind mitunter kaum abzugrenzen, greifen ineinander und verlieren ihre Kontur. Ein kaum noch überschaubarer Bereich künstlerischer Arbeit ist entstanden. Es wimmelt und wuchert.
Wo liegt der Beginn dieser Entwicklung? Lässt sich diese Spur der „künstlerischen Nutzung“ überhaupt zurückverfolgen und nachvollziehen?
Dies ist ein Versuch.

Streng genommen ist jeder ästhetische Gebrauch des Lichts zur „Lichtkunst“ zu rechnen: vielleicht bereits manch kultischer Umgang mit dem Feuer, gewiss aber die bleigefassten Glasfenster der gotischen Kathedralen oder Rembrandts meisterhafter Umgang mit der Leuchtkraft der Pigmente. Dies jedoch sind Darstellungsformen, die sich die Sonne zunutze machten. Davon aber soll hier nicht die Rede sein, sondern vielmehr vom menschengeschaffenen Leuchtwerk.
Es sind deshalb wohl zwei miteinander eng verwobene Ansätze, die es zu verfolgen gilt: zum einen die technische Entwicklung künstlicher Strahler selbst und zum anderen deren Beeinflussbarkeit.

 

Es war wohl eine Beobachtung des griechischen Philosophen Aristoteles vor fast zweieinhalbtausend Jahren, die den Stein ins Rollen brachte: Während eines Spaziergangs entdeckte er im Schatten eines Baumes kleine helle Flecken, deren Form nicht das Abbild der Kontur zwischen den Blättern war, sondern das Abbild der Sonne, und er schlussfolgerte, dass dies durch die kleinen „Löcher“ im Blattwerk des Baumes entstanden war. Fallen also Strahlen durch eine kleine Öffnung in einen dunklen Raum – wie den Schatten des Baumes – so entsteht an der auftreffenden Stelle ein Bild des Objektes, welches sie aussendet. Und das Abbild steht auf dem Kopf, weil die Strahlen sich im Durchgang des kleinen Loches kreuzen.
Auch da Vinci beschreibt diese Erscheinung und zu seiner Zeit wohl hat es schon „dunkle Kammern“ gegeben, selbstgebaute Kästen mit einem kleinen Loch darin, die „Bilder auffangen“ konnten. Die „Camera obscura“ war entdeckt, und mit einer halbtransparenten Rückwand ließ sich das Bild sogar von außen betrachten. Ganze Räume wurden als dunkle, begehbare Kammer gestaltet, die das äußere Bild einfangen konnten, um es auf weißer Fläche sichtbar zu machen. Allerdings ließ sich dieses Bild nicht festhalten.

 

Dies wurde möglich durch die „Zauberlaterne“, das erste Gerät zum Projizieren von Bildern überhaupt, das vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein in Europa verbreitet war. Der optische Effekt der Projektion entsteht durch das umgekehrte Prinzip der Camera obscura: Die „Laterna magica“ ist ein Kasten mit einer Öffnung zur Seite, in dem sich eine Lichtquelle befindet, anfangs noch eine Kerze oder Öllampe – später auch elektrisch – ,und diese strahlt durch eine Sammellinse in der seitlich zu einem Tubus verlängerten Öffnung nach außen und zwischen Kasten und Linse werden bemalte Gläser eingeschoben und so projiziert.
Zum ersten Mal wird Licht genutzt, um Bilder entstehen zu lassen, die durch mechanische Vorrichtungen teilweise sogar in Bewegung gesetzt werden konnten. Hier auch vollzieht sich der Übergang vom Natürlichen zum Künstlichen: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die elektrische Bogenlampe entwickelt und Edison hatte nach mehr als zweitausend Versuchen den Kohlefaden für seine Glühbirne entdeckt.

 

Verfolgen wir die Spur weiter, begegnen wir dem Franzosen Joseph Niépce, der versucht, die Bilder der Camera obscura festzuhalten. Und zwar nicht – wie viele Maler jener Zeit – durch naturgetreues Nachzeichnen, sondern durch deren Fixierung auf empfindlichem Material. 1816 gelingt es ihm, erste Abdrücke auf Chlorsilberpapier festzuhalten, und zehn Jahre später präsentiert er das erste Foto der Welt: ein Blick aus seinem Arbeitszimmer mit einer Belichtungszeit von acht Stunden.
Unmöglich jedoch, mit dieser Zeitdauer Menschen oder sich bewegende Gegenstände zu fotografieren! Gemeinsam mit seinem Landsmann Daguerre nutzte er zur Verbesserung der Lichtempfindlichkeit eine beschichtete Kupferplatte, und wenig später gelang es dem Engländer William Talbot, Negative herzustellen und daraus Positive zu entwickeln. Jetzt war die Vervielfältigung möglich und der Siegeszug der Fotografie nicht mehr aufzuhalten. Ende des 19. Jahrhunderts werden Meilensteine gesetzt: Bessere Linsen ermöglichen eine kürzere Blendenöffnung, der Zelluloidfilm wird erfunden und 1907 bereits entwickeln die Brüder Lumière den ersten Farbfilm.
Neben Kerzen und Ölfunzeln wird jetzt auch künstliches Licht in Räumen verwendet und es stellt sich quasi bereits an den Rand der darstellenden Kunst: Theaterräume werden beleuchtet und Bühnenbilder „in Szene gesetzt“. In der Fotografie wird eine erste differenzierte Beeinflussung möglich: Die auf das sensitive Material auftreffende Helligkeit wird durch Blendengröße und Zeitdauer bestimmbar und für viele Jahrzehnte ist es jetzt die Fotografie, deren Akteure die elektromagnetische Schwingung als Werkzeug der Gestaltung hinter und auch vor der Kamera begreifen. Die Handhabung einer geöffneten Blende in dunkler Umgebung, in die bewegte Leuchten kontinuierlich einstrahlen können, inspiriert zum Griff nach der Glühbirne selbst.

 

Zunächst aber wird es gar nicht als künstlerische Möglichkeit verstanden, diese leuchtende Kugel vor geöffneter Blende zu bewegen, sondern vielmehr als mechanisches Kopieren eines Arbeitsablaufs, wobei am Körper der Arbeiter kleine Glühlampen befestigt waren und auf dem fertigen Bild deren Bewegungen fixierten. 1889 hält Etienne Jules-Marey auf diese Weise zum ersten Mal absichtlich die sichtbare Spur eines Lichtes im Bild fest.
Obwohl er diese Vorgehensweise nicht als künstlerische Arbeit betrachtete, ist es doch die Geburtsstunde der „Lichtmalerei“, einer der heute wesentlichen Ausdrucksformen innerhalb dieses künstlerischen Bereiches.

 

Der Italiener Bragaglia führt 1911 die Dynamik in die Kunstfotografie ein: Er lässt seine beleuchteten Modelle innerhalb einer Langzeitbelichtung sich bewegen und hält so Geschwindigkeit und Richtung ausstrahlender Objekte fest.
Der Ungar Moholy-Nagy benutzt in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts halbtransparente, lichtbrechende Objekte und fügt seinen Bildern „Pinselstriche“ aus Blitzlicht hinzu, und der Amerikaner Man Ray begann im tatsächlichen Wortsinn zu zeichnen, indem er mit einer Edison’schen Erfindung am langen Kabel imaginäre Figuren in den freien Raum schrieb. Durch die lang geöffnete Blende erscheint die von ihm bewegte Glühbirne wie eine leuchtende Spur in der Luft.
Einige wären hier noch zu nennen, die der Kunstfotografie in diesem Bereich Erstaunliches hinzufügen konnten. Selbst Picasso war durch die Faszination einer bewegten Glühbirne und deren leuchtende Spur inspiriert.

 

Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts häufen sich die „Neuigkeiten“: In Deutschland wird Otto Piene mit handbewegten und mechanischen Leuchtkörpern durch seine „Lichtballette“ zu einem Wegbereiter der „strahlenden Kunst“, und in Amerika installiert Dan Flavin 1963 eine nackte gelbe Leuchtstoffröhre. Im Gegensatz zur mit Licht modellierten Skulptur trifft seine Arbeit nicht auf einen Körper, sondern auf einen Raum. Die Streuung wird zum großen Thema. Sein Landsmann James Turrell erschafft grenzenlos wirkende Räume durch die Abgrenzung großer und gleichmäßig leuchtender Flächen zueinander.

Zur gleichen Zeit findet ein neues Projektionsgerät, der Tageslichtprojektor, mehr und mehr Verbreitung und wird als Basis für die „liquid light shows“ der Hippies eingesetzt: Vorwiegend Öl, Wasser und Farbe werden in Glasschalen auf dessen Arbeitsfläche gegeben und bewegen sich durch die Erwärmung. Das entstehende Bild wird durch den Umlenkspiegel auf eine Fläche projiziert, zumeist im Versuch einer Choreografie zur psychedelischen Musik damaliger Zeit.
Ursprünglich in der Werbung als Schriftzeichen verwendet, findet die „living flame“, wie man die Neonröhre in den Staaten nennt, zu Beginn der 1970er Jahre eine neue Verwendung in der Kunst. Die dünne, formbare Röhre wird zur Basis von Gebilden mit denen sich Worte und Sätze schreiben lassen. Jenny Holzer installiert seit Anfang der 80er Jahre Leuchtschriften mit sozial engagierten Aussagen und verwendet ihre Kunst politisch orientiert.
Tiefgreifend ist die Entwicklung des Halogenstrahlers – eine Lichtquelle, die sich von allem Bisherigen unterscheidet: extrem hell und die Abstrahlfläche punktklein. Es sind zur gleichen Zeit ein französischer, italienischer und schweizerischer Schattenspieler, die das Potential für ihre Kunst erkennen: Die Silhouette kann jetzt von der Leinwand weggenommen werden, wird größer – ihre Kontur auf der Leinwand aber bleibt scharf! Dies revolutioniert das Schattenspiel. Es verwandelt sich ins Schattentheater, das den gesamten Raum auch sichtbar vor der Leinwand bespielt. Spätestens jetzt ist das Licht in die darstellende Kunst des Theaters vorgedrungen. Längst auch hat Robert Wilson die Bühnen der Welt mit seinen zum Staunen zwingenden „leuchtenden Inszenierungen“ bereichert.

 

Inzwischen zeigt der Laser – ein im Prinzip zwischen zwei Spiegeln sich aufschaukelnder Impuls – die konzentrierteste Form eines Strahls: Er ist zum Punkt gebündelt mit einer einzigen Wellenlänge. In Kombination mit computergesteuerter Software machen programmierte Lasershows in der westlichen Welt Furore und geben neue Impulse.
Als vorläufigen Schlusspunkt fügt der polnische Künstler Tadeusz Wierzbicki die Reflexion als weitere Spielform hinzu. Seine philosophischen Inszenierungen mit Lichtstrahlen, die durch bewegliche Spiegel „verbogen“ werden, wandern auf die Festivals der Welt und seine „hellen Masken“ – leicht gekrümmte Spiegel, deren reflektiertes Bild eine Fratze ist – bereichern die Ausstellungen.

Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand weiß: Zwei wirkliche Revolutionen stehen noch aus!
Um die Jahrtausendwende werden die Bereiche des Lebens mehr und mehr mit der Technik der emittierenden Diode ausgeleuchtet. Sie hat keinen Glühdraht mehr, sondern besteht aus einem kleinen Kristall, der leuchtet, wenn Strom hindurchfließt. Sie strahlt weniger Wärme ab als herkömmliche Leuchtmittel und hat eine lange Lebensdauer. Diese Merkmale verhelfen der LED zu einem Siegeszug, der wohl gerade erst begonnen hat. Viele kreative Gestalter nehmen diesen großen Impuls auf und nutzen ihn in vielfältigster Weise – unmöglich, sie alle zu nennen.
Zeitgleich revolutioniert die digitale Kamera den gesamten Bereich der Fotografie. Durch den eingebauten Chip wird es möglich, Licht in elektrische Impulse umzuwandeln und zu speichern. Die „Bulb- Funktion“ bereichert das Programmmenü der gehobenen Spiegelreflexkameras und ermöglicht eine nur auf das Ladevolumen der Batterie begrenzte Öffnung der Blende. Im dunklen Raum kann jetzt beliebig lange „gemalt“ werden – und der Sensor zeichnet auf, was immer an Hellem erscheint. Neben der großen Bewegung der „Lichtmaler“, die in der nächtlichen Umgebung vor der Kamera arbeiten, entsteht zur Zeit mittels einer speziell dafür entwickelten Software auch die faszinierende Möglichkeit, im Dunkel auf eine Leinwand zu malen und das Bild festzuhalten.

 

Spätestens jetzt reicht die verfolgte Spur in unsere Gegenwart, und der Stein, den Aristoteles ins Rollen brachte, liegt vor unseren Füßen. Wir sind in dieser medial gefluteten Zeit beschenkt mit faszinierenden Leuchtmitteln und der bis ins letzte Detail möglichen Beeinflussung derselben. Ein großer Reichtum, eine Einladung zum Erschaffen von Bildern aus Licht, von Bildern unserer inneren Tiefe. Sind wir nicht auch hier, um zu gestalten?

Sind wir nicht – in letzter Konsequenz – aus Licht auch einst erstanden?
Sind wir nicht Sternenstaub??